Musik und Politik - Politische Musik

Musik und Politik - Politische Musik
Musik und Politik - Politische Musik
 
Das Feld der Beziehungen zwischen Politik und Musik umfasst die Einbeziehung von Musik in den Zusammenhang von Macht oder Herrschaft, Eingriffe in Musik und Musikkultur ebenso wie Versuche engagierter Musik, Bekenntniswerke und Musik der Revolution, aber auch die welthaltigen, politisch-gesellschaftlichen Dimensionen aller Musik. Politische Musik ist das Spielen von Nationalhymnen bei Staatsakten genauso wie das Singen auf Demonstrationen; sie ist darüberhinaus jedoch weit mehr. Musikalisches kann den Status des Politischen erlangen, kann wie im Blues, Soul oder Rap Ausdruck von sozialem Protest und von Identitätsfindung sein. Dezidiert politisches Komponieren kann in Bekenntnismusik und engagierten Werken »Zeugnis ablegen« - in so unterschiedlichen musikalischen Idiomen wie Claude Debussys »Berceuse héroique« als Protest gegen den deutschen Überfall auf das neutrale Belgien 1913, Arnold Schönbergs »A Survivor from Warsaw«, Dmitrij Schostakowitschs »Leningrader Sinfonie«, Steve Reichs »Different Trains«, genauso wie im Bereich von Jazz und Rock und bei politischen Liedermachern. Innerhalb der artifiziellen Musik bestehen die einen auf Avanciertheit im Technisch-Materialen -bis hin zu einer kritischen »musica negativa«, die mittels ihrer Unzugänglichkeit alle andere weniger komplexe Musik negiert. Andere hingegen, darunter Hanns Eisler, Dmitrij Schostakowitsch oder Mikis Theodorakis, zielen mit einer Zurücknahme der kompositorischen Schwierigkeiten auf unmittelbare Verständlichkeit.
 
Zur Zeit des Ersten Weltkrieges, dieser »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts, wird das traditionelle Ausschlussverhältnis von Musik und Politik zusammen mit anderen orientierenden Strukturen der westlichen Zivilisation fundamental erschüttert. Der bösartige Kampfbegriff »Musikbolschewismus« dient seit 1918 dazu, um neue atonale Musik und wenig später auch den Jazz zu attackieren. Der Jazz war in dieser Zeit Medium von Protest und zugleich Vision eines erstrebten »American way of life«. Rhythmus, Instrumentation und Spieltechniken faszinierten auch die Komponisten moderner Musik - nur für den sozialen Ursprung dieser Musik und für ihren Protestcharakter haben sie, wie Hanns Eisler 1928 kritisierte, keinen Sinn: »Der moderne Musiker bejaht ja alle technischen Errungenschaften der Gegenwart. Er benützt sie. Der bürgerliche Musiker, auf der Suche nach einem Inhalt seiner Kunst, propagiert, da er keinen findet, die Inhaltslosigkeit als Zweck und Sinn seiner Kunst. Unfähig, die gesellschaftliche Situation zu verstehen, schreibt er Musik, die über alles Menschliche erhaben ist.«
 
In diesem Sinne reagierten die modernen Komponisten auf den Vorwurf des »Musikbolschewismus« betont unpolitisch, bis Anfang der Dreißigerjahre eine jüngere Komponistengeneration das Politik-Tabu durchbrach und weltweit eine politisch-kritische Musik von vielfältigen Dimensionen entwickelte. Die Spannweite reicht von George Gershwins anti-rassistischem Musical »Porgy and Bess« über Karl Amadeus Hartmanns antifaschistischer Oper »Simplicius Simplicissimus« (1948) und Paul Dessaus Oper »Lucullus« (1951) bis hin zu zahlreichen gesellschaftskritischen Produktionen von Bruno Maderna, Luigi Nono, Friedrich Goldmann und anderen.
 
Revolutionäre Lieder wie die Marseillaise und die sie paraphrasierende »Thälmannkolonne« Thälmann Ernst, »Brüder zur Sonne, zur Freiheit« und »Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin«, werden in vielen Kompositionen aufgegriffen. Gemessen an der bis heute verbreiteten Vorstellung von Musik als absolut »unpolitischer Kunst« erscheint politische Musik als Abweichung vom ideologischen Normalzustand. »Ein garstig Lied! Pfui! Ein politisch Lied!«, formulierte Johann Wolfgang von Goethe und gab damit einem dezidiert negativen Verständnis von politischer Musik Ausdruck, das bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Leitidee herrschte. Die verbreitete Leugnung des Politischen in der Musik, die Zuflucht beim Konzept der »absoluten« Musik erwies sich aber keineswegs als Rettung vor der Indienstnahme durch Nazismus und Stalinismus: »Den deutschen Künstlern hat es wenig genützt, dass sie immer wieder vermeinten, unpolitisch bleiben zu können. Die faschistische Diktatur politisierte sie alle, und wer nicht in die Parteischablone passte und seine Gesinnung nicht verkaufte, der wurde verfemt und als »Entarteter« in die innere oder äußere Emigration getrieben«, klagte Karl Amadeus Hartmann. Dazu gehörten auch jene Komponisten wie Ernst Krenek, Stefan Wolpe, Hanns Eisler und viele andere, die sich seit 1930 zu einer emphatisch verstandenen politischen Musik als »politischer Waffe« im revolutionären Sinne der KPD bekannten.
 
Als Gegenreaktion entstand nach dem Zweiten Weltkrieg im Westen eine weitgehend enthistorisierte und unpolitische Kunstkonzeption, während im Osten unter dem Diktat des sozialistischen Realismus politisch-soziales Engagement von Staats wegen gefordert wurde. Dieses provozierte seinerseits Rückzüge ins Unpolitische. Politische Musik kann unterschiedlich bis gegensätzlich zum jeweiligen Gesellschaftszustand Stellung nehmen, auf Seiten der Macht oder der Unterdrückten und Opponierenden stehen, sich anscheinend neutral geben oder den Rückzug in die Gefilde von Anti-Kunst oder »l`art pour l'art« antreten. Sie kann absichtlich oder unmerklich staatstragend sein - ganz im Sinne jener Goebbels-These, dass unmerklichste Propaganda am wirksamsten sei. Beispiele für regelrechte »Staatsmusik«, die sich bewusst als Teil der Herrschaftsästhetik präsentiert, reichen von Werner Egks »Olympischer Festmusik« (1936) über Schostakowitschs Oratorium »Das Lied von den Wäldern« (1949) hin bis zu zahllosen Kompositionen aus den Zeiten des Realsozialismus. Militärmusik und Soldatenlieder als Sonderbereich der Staatsmusik werden in Protestliedern und -songs genauso wie in artifiziellen Werken wie Benjamin Brittens »War Requiem«, Bernd Alois Zimmermanns»Soldaten« kritisch reflektiert.
 
Das Beispiel Schostakowitschs lehrt, wie problematisch das Anlegen von vermeintlich eindeutigen Schablonen an Komponistenschicksale im 20. Jahrhundert sein kann. Schostakowitsch pendelte zeitlebens, wie er bekannte, zwischen revolutionärer Musik und individualisierter musikalischer »Revolution«. So wurde er 1936 und 1948 wegen angeblicher formalistischer Verirrungen offiziell gemaßregelt. Daraufhin reagierte er äußerlich einsichtsvoll, kompositorisch aber doppelgleisig.
 
Unter der Überschrift »Chaos statt Musik« wurde Anfang 1936 in zwei offenkundig von Stalin angeregten Kritiken, veröffentlicht in der »Prawda«, Schostakowitschs national und international außerordentlich erfolgreiche Oper »Lady Macbeth des Mzensker Kreises« diffamiert: »Von der ersten Minute verblüfft den Hörer in dieser Oper die betont disharmonische, chaotische Flut von Tönen. Bruchstücke von Melodien, Keime einer musikalischen Phrase versinken, reißen sich los und tauchen erneut unter im Gepolter, Geprassel und Gekreisch. Auf der Bühne wird der Gesang durch Geschrei ersetzt. ..« Die Oper verschwand über Nacht von allen Bühnen, Schostakowitsch wurde mehrfach vom Komponistenverband verurteilt und verfiel in schwere seelische Krisen. Er zog daraufhin die geplante Uraufführung seiner avantgardistischen Vierten Sinfonie zurück und komponierte die maßvoll moderne Fünfte Sinfonie. Deren lautstarker Jubel am Schluss, offiziell von Schostakowitsch als »praktische Antwort eines sowjetischen Komponisten auf eine berechtigte Kritik« bezeichnet, klingt jedoch höchst ambivalent.
 
1948 wurde ihm zusammen mit prominenten Kollegen vorgeworfen, Grundwerte des sozialistisch-realistischen Musikschaffens an den »Kosmopolitismus« und »Formalismus« der Neuen Musik des Westens verraten zu haben. Offiziell zeigte Schostakowitsch Reue: »Obwohl es mir schwerfiel, die Urteile über meine Musik und noch mehr die Verurteilung seitens des Zentralkomittees zu hören, weiß ich, dass die Partei recht hat, dass die Partei mein Bestes wünscht und dass ich konkrete Wege suchen und finden muss, die mich zu einem sozialistischen, realistischen, volkstümlichen Schaffen führen werden.« Er lieferte zwar angepasste Musik, opponierte aber gleichzeitig mit einem Werk wie der Zehnten Sinfonie (1953), in der er mittels des Anagramms »D Es C h«, was seinen Namen Dmitrij Schostakowitsch evoziert, ein verschlüsseltes Programm entwickelte: Nach langer ernsthafter Auseinandersetzung trägt die Stimme des Komponisten schließlich im Finale ungebrochen über die martialische, schlagzeuggewaltige Stalin-Musik den Sieg davon. Gleichzeitig begann Schostakowitsch im Geheimen eine satirische Opernszene zu schreiben, in der er sich bissig-karrikierend mit den Formalismus-Debatten jener Jahre auseinander setzt. Diese später noch erweiterte Komposition, »Antiformalistischer Rajok«, konnte erst 1989 aufgeführt werden.
 
Prof. Dr. Hartmut Möller
 
 
Dibelius, Ulrich: Moderne Musik nach 1945. Erweiterte Neuausgabe München u. a. 1998.
 Flender, Reinhard und Rauhe, Hermann: Popmusik. Aspekte ihrer Geschichte, Funktionen, Wirkung und Ästhetik. Darmstadt 1989.

Universal-Lexikon. 2012.

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